Nicht übers Wetter schimpfen, es könnte schlimmer kommen
aus Spiegel-online von heute:
Zitat:
Sturm macht Passagiere zu Vierbeinern
Von Jan Jepsen
An Bord des Eisbrechers Kapitan Khlebnikov herrscht Ausnahmezustand: Ein Sturm mit Windstärke zwölf diktiert den Tagesablauf. Ein Gast flog nachts aus der Koje und erlitt eine Platzwunde. Die Außendecks sind gesperrt. Durchsagen warnen vor freihändigem Gehen.
Eigentlich war an dieser Stelle ein "Antarktikel" zu Scotts und Shackletons Hütte auf Ross-Island geplant. Der entfällt bis auf weiteres. Aufgrund der Wetterlage machen wir mit einer Schwerwetterbeschreibung weiter, wenn überhaupt. Das Problem: Mein sonst so solider Schreibtischstuhl macht Anstalten, sich in einen Schleudersitz zu verwandeln. Es könnte also sein, dass einer der folgenden Sätze abrupt endet. Denn es will erst geübt sein, gleichzeitig am Laptop zu schreiben und Rodeo zu reiten - und beides mit einer Hand zu steuern.
Das ist übrigens kein Witz oder Seemannsgarn. Draußen bläst der Wind mit der Stärke zwölf - ein ausgewachsener Sturm. Oder nennt man das schon Orkan? Laut Wetterbericht sollte dieses Tief eigentlich nördlich an uns vorbeiziehen. Aber dann hat das Tief es sich offenbar anders überlegt und es für besser befunden, über uns herzufallen und uns mit einer weiteren, unbekannten Größe der Antarktis bekannt zu machen. Dass es selbst die erfahrene russische Schiffsführung kalt erwischt hat, zeigt sich daran, dass sich draußen noch ein Helikopter mehrfach festgebunden an Deck befindet. Wenn man hier an Bord sonst sehr umfangreich informiert wird, wurden bezüglich eines Wetterumschwunges keine Warnungen ausgesprochen. Das hatte zur Folge, dass es im Bordshop heute Morgen aussah wie bei Hempels im Kinderzimmer. Schlimmer noch traf es Debby, die Barkeeperin. Sie hatte im Laderraum ihre Inventur erst zur Hälfte gemacht. Jetzt kann sie noch Mal anfangen.
Aufrechter Gang ein beträchtliches Risiko
Der Spuk begann heute Nacht gegen 3.30 Uhr Bordzeit. Ich wurde jäh aus dem Schlaf gerissen und konnte mit einem Becker-Hechtsprung gerade noch mein Laptop retten. Mittlerweile sind zwölf Stunden vergangen. Und von Besserung keine Spur. Im Gegenteil: Wenn mein Kabinenfenster nicht rechteckig, sondern ein klassisches Bullauge wäre, könnte man den Anblick (von Ausblick kann gerade nicht die Rede sein) mit einer laufenden Waschmaschine vergleichen. Schleudergang. Hinter meinem Fenster vermischen sich die Elemente zu einer aufgeschäumten Melange. Infolgedessen sind auch die Außendecks zum ersten Mal gesperrt, da die Nässe an Bord sofort friert. Dazu die bockigen Bewegungen der Kapitän Khlebnikov und die fehlenden Seebeine der meisten Passagiere.... Heikel.
Klar, dass Chris, der Bordarzt, besorgt ist. Er hat heute Morgen so eine Art Präventivmedizin betrieben, indem er der mit 86 Jahren ältesten Passagierin an Bord den Kaffee an ihren Platz brachte. Der aufrechte Gang stellt in diesen Stunden ein beträchtliches Risiko dar. Die Expeditionsleitung erinnert nicht von ungefähr bei jeder Durchsage, dass man sich unter den vorherrschenden Bedingungen nicht freihändig auf dem Schiff bewegen soll. Kurzum, wenn das so weitergeht, kommen wir wahrscheinlich als Vierbeiner oder mit Saugnäpfen aus der Antarktis zurück. Zum Beispiel Herr England. Er ist jener nachsichtige Herr, in dessen Kabine ich neulich irrtümlich gelandet bin. Ihn hat es heute Nacht bereits erwischt. Eine Welle hat ihn aus seiner Koje gekegelt. Er hat jetzt eine Platzwunde am Kopf und musste behandelt werden. Weitere Verletzte sind mir glücklicherweise nicht bekannt. Das könnte allerdings daran liegen, dass die Frühstücksrunde nicht vollständig war. Die Mehrzahl zog offenbar die horizontale Schwerwetterstrategie vor.
Natürlich gibt es auch ein paar Actionfreunde an Bord. Die stehen mit Videokamera am Fenster in der Lounge und bejubeln jede Welle, die sich über das Schiff hermacht. Anschließend schwenken sie auf die russischen Kellnerinnen, die heute Morgen sämtliche Tischdecken befeuchtet haben, damit das Geschirr nicht ins Glitschen kommt und mal bergauf und mal bergab servieren. Beliebtes Motiv sind auch die Bücher, die in der Bibliothek telekinetischen Kräften ausgesetzt sind, als sei Uri Geller an Bord. Noch finden das einige witzig. Aber sollte der Sturm nicht binnen 24 Stunden durchgezogen sein, da wette ich, fangen die Kellnerinnen an zu kichern, weil sie dann sturmfrei haben und hier außer Fischen sonst nichts und niemand mehr gefüttert wird. Aber ich will nicht schon wieder damit anfangen.
Dabei war die Welt gestern noch in bester Ordnung. Wir sind tatsächlich mittels Helikopter auf B 15 A gelandet, jenem größten treibenden Objekt der Welt, das jüngst den Pinguinen so schwer zugesetzt hat. Ein Eisplateau, rund 65 Seemeilen lang, 20 Meilen breit und ungefähr 700 Meter dick. Im März 2000 brach sich dieser Koloss vom Ross Eisschelf als B 15 los und ist seitdem unterwegs und in mehrer Stücke zerbrochen. Für die Freunde von Fakten: Ein Eisberg bekommt erst dann einen Namen, wenn er größer als zehn nautische Meilen ist, also 18,5 Kilometer. Die Buchstabencodierung von A bis D leitet sich von dem Quadranten ab, indem der Eisberg zuerst gesichtet wurde, wobei null bis 90 Grad West (Bellingshausen/ Weddellsee) für A steht, und B das Gebiet 90 bis 180 Grad (Ammundsen und östliche Ross-See) bezeichnet. Die Zahl hinter dem Buchstaben bezeichnet schlicht, mit dem wievielten der bisher gezählten Eisberge man es aus diesem Gebiet zu tun hat. Bricht dieses Gebilde auseinander, bezeichnet man den Abkömmling als B 15 B,C,D usw. Wie man allerdings das Stück B 15 A bezeichnen soll, dass abends in den Gin Tonics einiger Passagiere verschwand, weiß ich nicht. Würde man zu Verschwörungstheorien oder Aberglauben neigen (wie die Russen an Bord, von wegen an Bord wird nicht gepfiffen), könnte man behaupten: Kein Wunder das die Antarktis heute richtig wütend ist.
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